Titel: Das wassergewordene Kanonbuch
Instrumentation: 2 Sopräne, Alt, Tenor und 2 Bässe
Jahr: 2016–17
Dauer: 25 Min.
Uraufführung: Musik der Zeit Festival Köln 2016
Interpreten: Neue Vocalsolisten Stuttgart
Das wassergewordene Kanonbuch
1. Noli me tangere (Berühre mich nicht)
2. Die Zahlen
3. Hunc discas morem, si vis cantare tenorem: ut iacet attente, cantetur subdiapenthe (Lerne die Bräuche kennen, wenn der Tenor gesungen wird: wie es aufmerksam steht, gesungen subdipenthe Während drei durchlaufen, vier zählt.)
4. Weissgrau
5. Dum tria percurris quatuor valet. Tertius unum subque diapason sed facit alba moras (Dritte Oktave, aber es macht Verzögerungen unter Weiß)
6. Wo?
7. Omnia per circuitum (Alles über)
8. Tenor crescit in duplo (Tenor erhöht im Doppel)
9. Canon in Diapente (Kanon am fünften)
10. Cancer eat plenus sed redeat medius (Der Krebs sei vollständig, aber in zwei Hälften zurückkehren)
11. Reverte citius (Geh schneller zurück)
12. In gradus undenos descendant multiplicantes, consimilique modo crescent antipodes uno (Sie steigen elfmal vervielfachend ab und auf die gleiche Weise nehmen sie in die entgegengesetzte Richtung)
13. Scinde vestimenta tua redeundo (Zerbrich deine Kleider, indem du zurückkehrst)
14. Fuga trium temporum in diapente remissum (Fuge nach drei Takten in der Quinte unten)
15. Pigmeus hic crescat, gigas decrescere debat/Incauda cerebrum, en est mirabile monstrum (Lass den Pygmäen hier wachsen, der Riese sollte abnehmen / Das Gehirn ist im Schwanz, sieh das wundersame Monster)
16. Canon ad septimam (Kanon am seibten)
17. Das Geschriebene
18. Noctem verterunt in diem/Etrursum post tenbas spero lucem (Sie haben die Nacht zum Tag gemacht, und nach der Dunkelheit hoffe ich wieder auf Licht)
19. Keine Sandkunst mehr
20. Finis est principium (Das Ende ist der Anfang)
Das wassergewordene Kanonbuch ist ein Buch aus 20 Kanons für sechs Stimmen, wobei jeder Kanon einen Rätselkanon vom Mittelalter bis zur Renaissance mit Bezug auf die Poesie von Paul Celan re-transkribiert. Jeder Original-Puzzle-Kanon wird von einer Chiffre begleitet, die den Schlüssel zu der Lösung des jeweiligen Rätsels beinhaltet, d.h. wann jede Stimme richtig einsetzen sollte und unter welchen Bedingungen (Diminution, Augmentation, Retrograde, Transposition), um die Regeln des Kontrapunkts dieser Zeit zu erfüllen. Jeder Titel eines Kanons wird gemäß diesen Chiffren benannt. Ausnahmen sind die fünf Kanons, die auf fünf Gedichten von Celan basieren, die eine andere Art von Chiffre anbieten, welche keiner Lösung bedürfen, sondern eher eine „Flaschenpost“ ist:
„Das Gedicht kann… eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem- gewiß nicht immer hoffnungs starken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an‘ Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. (Paul Celan, „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen“, 1958).
Während die Chiffren der Rätselkanons spezifische Lösungen erfordern, leistet Celans Poesie das Gegenteil, indem sie dieses Buch der Kanons für eine andere Realität öffnet, eine, in der die Zahlen, Proportionen und Symmetrieverhältnisse, die sorgfältig in die Musik eingewoben sind, sich mit Geräuschen andere Materialen vermischen, die sich einer lyrischen Gestaltung widersetzen und nicht leicht zu fassen sind. Diese andere Realität sucht nach einem Hören, bei dem Musik nicht mehr möglich erscheint und lyrischer Ausdruck sensibel ist für die Beziehungen zwischen menschlichem Einfluss und Präsenz in unserer Welt möglicher Klänge. Ein solches Zuhören kann auftreten, wenn die expressiven Aspekte der Musik gebrochen und beschädigt sind und es zu Öffnungen zwischen der kompositorischen Arbeit und der größeren Weltordnung kommt.
Die rhythmische und metrische Struktur für jeden Kanon wurde von Prynnes Gedicht „Pearls That Were“ abgeleitet, das sich auf Shakespeares Der Sturm (d.h. „Voll Faden fünf“) bezieht.
Voll Faden fünf dein Vater liegt
Aus Beinen ist Koralle,
Aus Augenlicht die Perlen:
Alles bleibt und schwindet nicht
Sondern Seegang erleidet
Umgewandelt reich und fremd.
Stündlich läutet Seegesang:
Bimbam
Horch! Jetzt hör‘ ich ihn — bimbam bim.
William Shakespeare, Der Sturm, 1610 –11
Meine erste Oper Die Geisterinsel (2010–11) basierte ebenfalls auf Der Sturm. Man kann sich Das wassergewordene Kanonbuch, gesungen von dem auf Prosperos Insel beheimateten Geisterchor, als Nachspiel zu meiner Oper vorstellen, wenn Prosperos Einfluss verschwunden ist und die Geister ihre Musik wiederentdecken können.
Caliban:
Diese Insel ist voll von Getöse,
Tönen und anmutigen Melodien, die belustigen und keinen Schaden tun
Ming Tsao, Die Geisterinsel Libretto (aus William Shakespeare und Friedrich Wilhelm Gotter)
Link: www.wisemusicclassical.com/work/67585/Das-wassergewordene-Kanonbuch–Ming-Tsao/