Mudan ting –
Ein Gespenst geht um in China

Titel: Mudan ting – Ein Gespenst geht um in China
Instrumentation: Vollkommen inszenierte Oper in Großform
Jahr: 2019–2023
Dauer: ca. 2 Stunden
Uraufführung: Mannheim Nationaltheater 2025
Interpreten: Mannheim Nationaltheater

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Die Rückkehr Der Seele (Tang Xianzu, deutsche Übersetzung von Vincenz Hundhausen, 1937)

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Mudan ting (牡丹亭, Tang Xianzu, 1598)

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Mei Lanfang als Du Liniang (1920)

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The China Cantos (Ezra Pound, 1940)

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Die Rückkehr Der Seele (Tang Xianzu, deutsche Übersetzung von Vincenz Hundhausen, 1937)

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Chinesische Gedichte (Bertolt Brecht, 1938)

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Massaker von Nanking (1937)

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Massaker von Nanking (1937)

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Auf der Suche nach „Stone Lake“ in Gesellschaft eines Freundes (Pu Ling-en oder J. H. Prynne, 2004)

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Die Rückkehr Der Seele (Tang Xianzu, deutsche Übersetzung von Vincenz Hundhausen, 1937)

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Sternmaße (璇玑圖, Su Hui, 351–394)

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Atlas Eclipticalis (John Cage, 1961–62)

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Taiyin Daquanji (太音大全集, Tian Zhiweng, Song Dynasty)

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Die Rückkehr Der Seele (Tang Xianzu, deutsche Übersetzung von Vincenz Hundhausen, 1937)

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Suoyi Pu Notation für die Kunqu-Oper

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Schnee (沁園春雪, Mao Zedong, 1936)

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Jianzipu (减字谱),Tabulaturnotation für das Guqin (oben)
The Great Learning (Cornelius Cardew, 1971) (unten)

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Notenschrift aus dem Yuyin Fashi (玉音法事, c. 1111-1118)

Mudan ting – Ein Gespenst geht um in China
Die Oper im 21. Jahrhundert neu erfinden

„Mudan ting“ (Der Pfingstrosen-Pavillon) ist eine chinesische Geistergeschichte. Die schöne Du Liniang träumt von ihrem Geliebten, dem jungen Gelehrten Liu Mengmei, und stirbt, als sich ihre Liebe nur in der Welt der Träume erfüllt. Ihr Geist kehrt zur Erde zurück, um den echten Liu Mengmei zu finden, damit sie und der junge Gelehrte ihre gemeinsame Liebe verwirklichen können. Der Autor Tang Xianzu schrieb „Mudan ting“ in der Spätzeit der Ming-Dynastie im Jahr 1598. Die Komplexität seiner Schriften und sein Status in der chinesischen Literatur haben viele Parallelen zu einem anderen zeitgenössischen Autor in der westlichen Welt, William Shakespeare. Beide Autoren starben im Jahr 1616. In der Zeit, als Tang Xianzu „Mudan ting“ schrieb, verfasste Shakespeare seine Sonette und schrieb schließlich im Jahr 1611 „Der Sturm“, als Berichte über die neue Welt in ganz England verbreitet wurden. Kurze Zeit nach der ersten Aufführung von „Der Sturm“, im Jahr 1619, wurde der erste Import afrikanischer Sklaven zum wirtschaftlichen Rückgrat für das, was später die Vereinigten Staaten werden sollten.

Viele Geister finden in Du Liniang ihr Medium und kehren zurück, um die Welt mit der ihnen je eigenen Gewalt zu verfolgen. In dieser Überarbeitung von „Mudan ting“ wird die Figur von Du Liniang zum Synonym für das Jahr 1937, in welchem Geister von der Wende zum 17. Jahrhundert und aus dem alten China in einen stürmischen Wirbel mit jenen Geistern versetzt werden, die uns vom Beginn des 20. bis an die Wende zum 21. Jahrhundert weiterhin mit Schrecken erfüllen.

Im Jahr 1937 beendete Vincenz Hundhausen, Professor für deutsche Literatur in Peking, eine deutsche Übersetzung von „Mudan ting“. Im gleichen Jahr kündigten die Nationalsozialisten Hundhausens Anstellung an der Universität, da sich seine Arbeit dort nicht für die neue politische Ära im nationalsozialistischen Deutschland eignete. In dieser Zeit begann der Dichter Paul Celan mit seiner Übersetzung von Shakespeares Sonetten und schrieb 1941 während Monaten in Zwangsarbeit unter rumänischen und deutschen Einsatzkommandos seine Fassung von Sonett 54 („O wie viel schöner ist der Schönheit Schein“).

1937 war die Kommunistische Partei Chinas auf dem Vormarsch, als Mao Zedong die wichtigen Aufsätze „Über den Widerspruch“ und „Über die Praxis“ verfasste. Zu dieser Zeit hatte Mao bereits Bertolt Brecht beeinflusst, als Brecht 1937 sein in China angesiedeltes Lehrstück „Die Maßnahme“ überarbeitete. Nach dem Krieg benutzte Brecht insbesondere Maos Aufsatz „Über den Widerspruch“, um mit Schauspielern an der Interpretation von Shakespeares „Coriolan“ zu arbeiten, indem er sich auf vorherrschende und nachfolgende Widersprüche innerhalb des Textes konzentrierte.

Die Geister kehrten 1978 zurück, als China unter Deng Xiaoping seine Türen für die Wirtschaftspolitik des Westens öffnete, die unter der Herrschaft der Maoisten verboten war, und im Wettlauf des Aufholprozesses mit dem Westen Geisterstädte schuf, welche anscheinend für niemanden gebaut wurden, als Demonstration von Modernisierung und Stadtentwicklung. Unter Chinas schnellem wirtschaftlichen Wachstum führte ein unbarmherziges System des freien Marktes ohne jede Regulierung oder Sicherheitsstandards zu unüberbrückbaren sozialen Ungleichheiten. Eine seltsame Ehe zwischen Kapitalismus und staatlichem Autoritarismus schien für China unausweichlich, um sich im 21. Jahrhundert als Weltmacht gegen die Schattenwirtschaft der Vereinigten Staaten und Europas zu entwickeln. Diese Beziehung hat verstörende Ähnlichkeiten mit der Ehe in „Mudan ting“ zwischen dem zum Grabräuber gewordenen Gelehrten Liu Mengmei und der auferstandenen Leiche von Du Liniang.

Indem Du Liniang auf die Erde zurückkehrt, wird ihre Suche nach Verwirklichung ihrer Liebe zu einer Suche nach Umkehrung der Zeit und nach Versöhnung mit Liu Mengmei, während beider Repräsentation – als Menschen und Geister, Lebende und Tote – unvereinbar sind. Dies ist eine Oper, in welcher verschiedene Zaubermittel zur Umkehr der Zeit – umkehrbare Gedichte und Sternkarten, Anagramme, Rätsel- und Mensurkanons, krebsgängige Musikstrukturen, irrationale Zeitmaße, serielle Beschwörungsformeln und polytemporale Konstellationen – auf Ereignisse angewendet werden, die grundsätzlich nicht rückgängig zu machen sind wie Vergewaltigung, Selbstmord, Gewalt und Folter.

Die Geister tauchen bereits 81 v. Chr. auf, als die Konfuzianer und die Legalisten über die Rolle debattieren, die ein Staat bei der Regulierung wirtschaftlicher Praktiken, in diesem Fall beim Handel mit Salz und Eisen, einnehmen sollte. Der Staat griff unter Kaiser Wu ein und schuf Monopole für Chinas Salz- und Eisenunternehmen, Programme zur Preisstabilisierung sowie Kapitalsteuern, um die brutalen Militär- und Kolonialisierungskampagnen der Regierung im Norden und Westen des Landes zu bezahlen.

So viele Geister. Als Tang Xianzu „Mudan ting“ und Shakespeare „Der Sturm“ vollendeten, legte die Wirtschaftsform der Sklaverei langsam den Grundstein für den amerikanischen Kapitalismus der Nachkriegszeit, als die neoliberale Wirtschaftspolitik eingeführt wurde. Diese Politik setzte sich für Maßnahmen der Austerität, parallel mit Deregulierung, Privatisierung, Handels- und Finanz- liberalisierung, für niedrigere Steuern und eine handlungsschwache Regierung ein. In dieser Zeit nahm der Nahe Osten eine zentrale Rolle ein in der globalen Strategie der Vereinigten Staaten zur Aufrechterhaltung ihrer Kontrolle über Westeuropa und bei dessen Rivalität mit den beiden Haupt- konkurrenten, der Russischen Föderation und China. Das Entstehen von Krisen als Folge dieser Wirtschaftspolitik setzte die Vereinigten Staaten einer Instabilität ihrer globalen Position aus, der sie durch Invasion und die Destabilisierung der Staaten des Nahen Ostens begegneten. Die Invasion in den Irak 2003 war für die USA von zentraler Bedeutung, um den globalen Kapitalismus nach dem Fall der Sowjetunion zu beherrschen.

Zwischen 1937 und 1940 entstehen Ezra Pounds „China Cantos“. In ihnen interpretiert Pound die chinesische Geschichte neu, um seine eigenen Ansichten über eine starke staatliche Führung zur Bewältigung der fiskalischen und kulturellen Probleme im 20. Jahrhundert zu unterstreichen, welche teilweise seine Unterstützung Mussolinis erklären. Sein früheres Missverständnis der chinesischen Sprache in seinen „Cathay“ Übersetzungen von chinesischer Poesie, hauptsächlich aufgrund der Arbeiten von Ernest Fenollosa, führte zur literarischen Bewegung des Imagismus, in welcher die Werte der Moderne in Beziehung gesetzt werden zum Aufstieg des Kapitalismus im 20. Jahrhundert und zu der Gewalt, die eine solche Wirtschaftspolitik auslöste. Die Gewalt der Cathay-Übersetzungen ist ein Ausblick auf eine viel tiefere Beziehung zwischen Sprache und Krieg.

Übersetzung der chinesischen Sprache – in der Form wie Pound und Hundhausen sie praktiziert hatten – wurde zu einer Form von Kolonialisierung, worin Identität durch eine Festschreibung von Signifikant und Signifikat erzeugt wird, um ein vertrautes (und machtloses) Bild von China und allgemein „dem Osten“ aufzubauen. Die Förderung eines gesellschaftlichen Bewusstseins mit eindeutiger Repräsentation von „Andersartigkeit“ geschieht meist über das Medium Sprache, wodurch sich die Sprache an den unweigerlich auftretenden Gewaltakten mitschuldig macht. Insbesondere die Grammatik der Sprache kann Verbindungen zwischen Ereignissen herstellen und manipulieren, um an der Entwicklung eines Kriegsprogrammes vor jeder Kampfhandlung mitzuwirken, so dass Methoden von Gewalt, Vergewaltigung und Folter gerechtfertigt werden können.

Das wichtigste Ereignis des Jahres 1937 ist eine der ungeheuerlichsten Taten in der chinesischen Geschichte, das Nanjing Massaker, als die Japaner mehr als 300.000 Chinesen ermordeten und großflächig Vergewaltigungen begingen, ein Ereignis, welches selbst ein überzeugtes NSDAP-Mitglied wie John Rabe als zu schrecklich bezeichnete. Aber die 300.000 Chinesen waren nur ein kleiner Teil der insgesamt 3,9 Millionen Chinesen, die während dieser Zeit bei japanischen Militäreinsätzen in China getötet wurden. 1937 weigerte sich Brechts Freund Mei Lanfang, der für seine Darstellung der Du Liniang in „Mudan ting“ berühmt war, für die Japaner zu singen.

Die Toten kehren unter die Lebenden zurück und werden uns weiter heimsuchen. Dies ist eine Oper, die versucht uns zu erreichen, wer wir sind zu diesem gegenwärtigen Zeitpunkt, wenn auf beispiellose Weise politische und gesellschaftliche Selbstverletzungen mit der Zerstörung von Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen einhergehen, und wenn in der Folge Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und deren gewalttätige Auswirkungen sich verstärken. Es ist eine Oper in naher Verwandtschaft zur Geologie, als der Erforschung von dem, was nicht oder kaum sichtbar ist. Diese Oper sammelt das, was tief unter uns verborgen liegt, um ein Bewusstsein zu schaffen für die materiellen und kulturellen Kräfte, die durch diese Schichten angesammelter Erde hindurch wirken, damit wir begreifen, was nicht begraben werden kann.