Titel: Plus Minus
Instrumentation: Klarinette, Trompete, Posaune, Gitarre, Klavier, Violoncello, Akkordion und Schlagzeug
Jahr: 2012–13
Dauer: ca. 30 Min.
Uraufführung: Wittener Tage für neue Kammermusik Festival 2013
Interpreten: Ensemble Ascolta
Karlheinz Stockhausen in einem Brief an den Filmemacher Jean-Marie Straub (1963)
Meines Wissens nach gibt es bislang keine vollständige Ausarbeitung von Plus Minus. Alle Realisationen (einschließlich der ersten durch Cardew/Rzweski von 1964) beziehen sich auf nur eine oder zwei Seiten und eine Schicht der Stockhausen-Vorlage (es gibt insgesamt sieben Blätter mit Kombinationsmöglichkeiten von bis zu sieben Schichten).
Ignoriert werden somit Elemente wie Einschübbe, Momente von einem früheren und späteren Blatt, die in das aktuelle Blatt eingebunden werden, sowie die Synchronisation der Schichten, die Tonhöhenersetzungen beinhalten kann, wenn zwei Schichten eine oder mehrer gleiche Tonhöhen enthalten. Es ist wichtig sich diese Aspekte von Plus Minus vor Augen zu führen, um einen umfassenden Eindruck der Komplexität von Plus Minus zu gewinnen. Meine Version nutzt alle sieben Blätter und beide Ebenen. Meine Ausarbeitung besetzt zusätzlich Klarinette und Akkordeon, und ich habe Schicht Eins einem Trio von Cello, Klavier, Klarinette und Schicht Zwei den übrigen Instrumenten zugewiesen.
Warum realisiert man Plus Minus heute, fünfzig Jahre nachdem Stockhausen seine ersten Ideen im Sand für Mary Bauermeisterskizziert hat? Als ich anfing, die Regeln von Plus Minus zu interpretieren, besonders im Zusammenhang mit Stockhausens früheren Arbeiten wie Momente, Gruppen und Refrain, begann ich Plus Minus als ein „Meta–serielles Werk“ zu sehen; anstatt ein Werk zu sein, das aus seriellen Ideen besteht (was es ist), stellt seine Realisierung die Natur des seriellen Denkens in Frage.
Auf der einen Seite verallgemeinert Plus Minus das serielle Denken, so wie es von Stockhausen verstanden wurde, was die Aufmerksamkeit auf alle musikalischen Parameter des Werkes, sowie die serielle Gestaltung eines Klanggeschehens durch Ordnen und Permutieren des Anschlags, des zentralen Teils und des Ausschwingens eines Klangs einschließt, der in der Partitur als Akzidenszien eines „Zentralklangs“ beschrieben wird, der die verschiedenen musikalischen Ereignisse hervorbringt. Jeder Ereignistyp – definiert durch ein Dauermaß in meiner Realisierung – besteht aus einem seriell generierten Zentralakkord, der in von der Fibonacci-Reihe abgeleiteten Größen erscheint, zusammen mit Nebennoten und klanglichen Eigenschaften, die das Ereignis prägen wie periodische/aperiodische Rhythmen, Tonhöhe/Geäusch – Klangfarbe usw. Die Einbeziehung des Plus/Minus – Prozesses als serielle Ordnung in seiner verallgemeinerten Form durch Addition oder Subtraktion musikalischer Ereignisse desselben erkennbaren „Typs“ ist ebenfalls eine wichtige Komponente (bspw. verursacht die Addition von 13 solcher Ereignisse eine qualitative Änderung in diesem Ereignis, genauso wie die Subtraktion von 13 solcher Ereignisse bewirkt, dass dieses Ereignis verschwindet und durch ein „Negativ–Band“ ersetzt wird. Darüber hinaus finden wir für jedes Ereignis Transponierungsregeln, die gewährleisten, dass sich Tonhöhe oder andere parametrische Materialien (Dauer, Amplitude, Impulsdichte) kontinuierlich ändern, sowie Tonhöhenersatzregeln, um sicherzustellen, dass keine Tonhöhenverdopplungen oder Oktavbeziehungen existieren. Schließlich sind „Einschübe“, die andeuten, dass die musikalische Form selbst eine Reihe von „Momenten“ ist, die auf verschiedene Arten geordnet und permutiert werden können, ebenfalls ein Schlüsselelement.
Auf der anderen Seite kann Plus Minus auf die Grenzen des seriellen Denkens hinweisen, indem es die Idee des Materials des „Negativ–Band“ in seine Struktur integriert. Wenn man das gegebene Stockhausen-Material –die zentralen Akkorde– durch den Minus-Prozess subtrahiert, ersetzt ein negatives Bandmaterial es. Dieses Material muss sich grundlegend von dem Material von Stockhausen unterscheiden und außerhalb der seriellen Parameter des Werks liegen. Vergangene Realisierungen haben das Negativbandmaterial als etwas interpretiert, das außerhalb der Grenzen des Werks selbst liegt: Radiolärm, gesprochener Text, Zitate aus Klassik und Pop usw. Diese Interpretationen fixieren Plus Minus zu schnell als Werk der 1960er Jahre aufgrund der Konfrontation von Stockhausens Material mit Materialien, die kategorisch damit im Widerspruch stehen.
Meiner Meinung nach sollten, um die Aktualität von Plus Minus nach wie vor zu gewährleisten, die „Negativ–Band“– jenes Material, dass grundsätzlich von Stockhausen Vorgabe verschieden sein soll – frei interpretiert werden in der jeweils eigenen musikalischen Sprache des Ausarbeitenden. Auf diese Weise tritt ein Komponist in den Dialog mit den Gesetzmäßigkeiten von Plus Minus, was das Stück wirklich zu einem lebendigen Werk macht, indem durch die Auseinandersetzung mit den seriellen Materialien Stockhausens und ihrer Verarbeitung Energie freigesetzt wird. Dies ist meine Art, die „Negativ–Band“ zu interpretieren: in meiner eigenen musikalischen Sprache und mit meinem Material, dessen Form durch die Regeln von Plus Minus geprägt ist.
Wird das Material der „Negativ–Band“ selbst abgezogen, wird meine eigene Präsenz allmählich vom Geräusch der gestrichenen Pauken gelöscht, die mehr den Status klanglicher „Fakten“ haben, die außerhalb der Dialektik des Werkverlaufs liegen. Diese selbst-reflexive Qualität der „Negativ–Band“, die zunächst Stockhausens Präsenz und dann allmählich meine eigene löschen, erhebt Plus Minus über die „offenen Partituren“ aus den 1960er Jahren, die gerade so interessant bleiben im Gegensatz zur philosophischen Musik von Plus Minus, wo serielle Strukturierung auf das sich bewusst-sein ihrer eigenen Konditioniertheit trifft.
Link: www.wisemusicclassical.com/work/66099/Plus-Minus–Ming-Tsao/